Aus ethischer Sicht ist der Ausdruck „Missbrauch“ verwerflich, wenn er sich auf Menschen oder lebendige Wesen bezieht. Wenn solches geschieht, wird Missbrauch mit dem Begriff „Missbrauch“ betrieben. Man kann von sexuellen Übergriffen, von sexueller Nötigung, Misshandlung oder Vergewaltigung einer Person sprechen, nicht aber vom „Missbrauch einer *Person*“ . Missbrauchen kann man nur einen *Gegenstand* oder eine *Sache*, indem diese in einer zweckentfremdeten, unsachgemäßen und zerstörerischen Art und Weise benützt oder angewendet werden. Menschen darin mit einzubeziehen ist sprachethisch diskriminierend. Wenn Personen aufgrund ihrer Menschenwürde keine Dinge oder Werkzeuge sein können (wie sie während der Sklaverei behandelt wurden), dann kann es logischerweise auch keinen Missbrauch von Menschen geben. Maria Reinecke kritisiert: „Der scheinbar neutrale Terminus »Sexueller Missbrauch« impliziert die Vorstellung von einem Gebrauchsgegenstand, der nicht richtig gebraucht wird, sondern eben missbraucht. Der Begriff »sexueller Missbrauch« transportiere damit schon rein sprachlich eine brutale bildliche Verdinglichung, die auf die betroffenen Menschen projiziert werde, sagt der Psychologe M. Griesemer“. Dennoch hat sich der unselige Begriff auf breiter Ebene etabliert und wurde zudem noch juristisch zementiert. Mit dem Ausdruck „Kindesmissbrauch“ werden Kinder zu willenlosen und damit rechtlosen Objekten degradiert; kein Wunder, wenn ihr Wunsch und ihr Einverständnis zu sexuellen Handlungen als irrelevant angesehen werden. Wenn ein Erwachsener mit Gewalt und gegen den Willen eines Kindes an diesem sexuelle Handlungen vornimmt, dann handelt es sich dabei um einen Missbrauch der Sexualität, nicht aber um einen Missbrauch des Kindes – das Kind wird stattdessen bedrängt, genötigt oder vergewaltigt. Wenn ein Kind lediglich nach emotionaler Zuwendung verlangt, sein Bedürfnis aber ausgenutzt wird für sexuelle Handlungen, dann wird das kindliche Verlangen nach emotionaler Zuwendung missbraucht, nicht aber das Kind – das Kind wird stattdessen manipuliert und übervorteilt. Ist aber ein Kind mit den sexuellen Handlungen einverstanden und diese sind willkommen und erwünscht, dann kann weder von einem Missbrauch der Sexualität noch von einem Missbrauch kindlicher Gefühle und schon gar nicht von einem „Missbrauch des Kindes“ gesprochen werden. Ob es ethisch gerechtfertigt ist oder nicht, sexuelle Kontakte von Kindern mit anderen Menschen zu verbieten und strafrechtlich zu verfolgen, entscheidet sich an der Antwort auf die Frage: Ist ein Kind ein sexuelles Wesen oder nicht? Wenn nein, dann ist es Aufgabe und Pflicht von Eltern und Staat, Kinder vor wesensfremden Erfahrungen zu schützen. Wenn ja, dann haben auch Kinder das Recht, Sexualität zu erfahren, auch mit anderen Personen ihrer Wahl. Da es nunmal keinen Zweifel daran geben kann, dass Kinder sexuelle Regungen, Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche haben, kann aus ethischer Sicht nur dann von einem unzulässigen und verwerflichen sexuellen Kontakt gesprochen werden, wenn dieser gegen den Willen und die Bereitschaft eines Kindes geschieht und somit das kindliche Recht auf Selbstbestimmung verletzt wird. Konkret also immer dann, * wenn ein Kind durch hinterlistige Manipulation oder mit Versprechungen und Geschenken zu sexuellen Kontakten verführt wird, * wenn ein Kind unter psychischen Druck gesetzt wird (z.B. durch Angstbereitung oder Drohung), * wenn einem Kind Sex in irgendeiner Form aufgedrängt wird, * wenn ein Kind gewaltsam zu sexuellen Handlungen gezwungen wird, * wenn die sexuellen Handlungen schmerzbereitender oder sadistischer Art sind, * wenn die sexuellen Handlungen mit einer Verletzungs- oder Infektionsgefahr verbunden sind. In keinem Fall kann aber von „sexuellem *Missbrauch* eines Kindes“ gesprochen werden, sondern nur – je nach Art eines sexuellen Übergriffs – von psychischem Druck, Nötigung, Vergewaltigung, Misshandlung oder Ausbeutung. Ein jedes Kind hat ein Recht auf Schutz vor sexuellen und anderen Formen der Gewalt. Es braucht aber keinen generellen Schutz vor sexuellen Erfahrungen. Genauso unsinnig wäre es, verhindern zu wollen, dass es auf die Straße geht aus Angst, es könnte von einem Auto überfahren werden, oder das Spielen auf einem Spielplatz zu verbieten, weil befürchtet wird, es könnte von einem Klettergerüst fallen. Wenn Kinder daran gehindert werden ihre natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen, die auch sexueller Art sein können, ist das nichts anderes als Bevormundung und Unterdrückung und ein Verstoß gegen das für alle Menschen geltende Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit. Somit wird die „Missbrauchs“-Thematisierung selbst zum Missbrauchsvorgang: zum Missbrauch der Verfügungsgewalt von Eltern, Gesellschaft und Staat gegenüber Kindern und Jugendlichen.