Den Allerwenigsten, die sich so lautstark über „sexuellen Missbrauch“ ereifern, scheinen Kinder wirklich am Herzen liegen, vor allem wenn man bedenkt, wie wenig Einsatz sie auf Gebieten zeigen, wenn es etwa um Bildung geht, um soziale Jugendarbeit, um Selbstbestimmung und Menschenrechte auch für Kinder und um ihren Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung in der Familie – oder wenn durch ideologisch motivierte „Missbrauchs“-Aufdeckung die Kindern zugefügten psychischen Verletzungen als Kollateralschäden nolens volens in Kauf genommen werden. REINHART WOLFF kritisierte bereits vor Jahren diese unheilvolle Entwicklung, die inzwischen noch bedenklichere Formen angenommen hat: „Gegenwärtig sieht es sogar so aus, als hätte Kinderschutz im wesentlichen die Aufgabe des Schutzes vor sexueller Mißhandlung, die umstandslos zur schwersten Mißhandlungsform überhaupt erklärt wird. Ich halte dies für eine außerordentliche Verkürzung und will auch nicht verhehlen, daß die neuen Kampagnen gegen den sexuellen Mißbrauch ein Klima der Feindseligkeit und der Hetze geschaffen haben, das den offenen Zugang zu den Betroffenen für die helfenden Berufe erneut verstellt und erschwert hat. Mit dem Engagement für die Opfer, leider auch von Teilen der neuen Frauenbewegung, wird gleichzeitig eine Entsolidarisierung betrieben, schlägt die beabsichtigte Aufklärung in Verfolgungskampagnen neuen Stils um“ (Wolff 1994). Wenn es um das tatsächliche Wohl der jungen Generation geht, zeigen sich die Gesellschaft und die Politik auffallend zurückhaltend. KONRAD EWALD weist auf die Diskrepanz hin: „Wie hypnotisiert stiert man auf »Sex« als den großen Satan und vergisst darüber beinahe die vielen wirklich todbringenden und gesundheitsgefährdenden Mächte und Bedrohungen (Stichworte: Kriege und Kindersoldaten, Arbeitssklaven, Aufwachsen in Dreck und Abgasen, Krankheiten und Seuchen, Alkohol und Drogen bis zur Ausbeutung der Jugendlichen durch Fress-, Sauf-, Mode- und Unterhaltungsindustrie“ (Ewald 2012). Eltern mit einer Phobie vor „Kinderschändern“ leben in der ständigen Angst, ihr Kind könnte einem „Pädophilen in die Hände fallen“, sind aber oft nicht bereit, ihrem Mädchen oder Jungen ein notwendiges Maß an Zuwendung, Zeit und Körperkontakt zukommen zu lassen. Darüber hinaus wird körperliche Gewalt gegenüber Kindern noch immer weitgehend ignoriert. REINECKE kritisiert: „Wenn wir die erschreckenden Daten über die tägliche Gewalt in den Familien zur Kenntnis nehmen, wirkt der einseitig öffentlich geschürte hysterische Umgang mit dem Phänomen »sexueller Kindesmissbrauch« wie eine AlibiBewegung, die über den eigentlichen allgemeinen Gefühls-Notstand, die emotionale Verwahrlosung in Familie und Gesellschaft hinwegtäuschen soll. Lustlosigkeit, Ablehnung, Aversion gegenüber Kindern ist in Deutschland fast überall schmerzlich spürbar. (...) Für die Belange des Kindes interessiert sich der »Normalbürger« insgesamt wenig, aber sobald er von »sexuellem Missbrauch« hört, gerät sein Gemüt in Wallung, was letztlich mehr über ihn aussagt als über den Tatbestand. Eine neue Art Pharisäertum ist entstanden: die lauthals gezeigte, selbstgerechte Empörung über »Kinderschänder« (...), verbunden mit der Forderung, diese am besten an Bäumen aufzuhängen, bietet die dunkle Kulisse für all jene, die danach zu Hause ihren eigenen Familien das Leben zur Hölle machen, auf ihre Art und Weise, und sei diese noch so subtil. Von dem sexuellen Delikt kann man sich nach außen hin demonstrativ überheblich moralisch absetzen, doch wird gerade dabei der eigentliche Notstand zugedeckt: der allgemeine Mangel an Lebens- und Gefühls-Kultur in Deutschland“ (Reinecke 2009).