From CONSTANZE KURZ, 11 Years ago, written in Plain Text.
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  1. 12.12.2013 ·  Das Jahr der entfesselten Geheimdienste geht zu Ende. In der hundertsten Folge ihrer Kolumne fragt unsere Autorin, wie die Politik die Macht der Dienste eingrenzen müsste.
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  3. Die Vorweihnachtszeit gilt als Zeit der Besinnung und des Rückblicks auf das vergangene Jahr. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: 2013 wird als das Jahr der entfesselten Geheimdienste in die Geschichte eingehen. Doch die Reaktionen in der hiesigen Politik auf die durch die Snowden-Enthüllungen bekanntgewordenen weltweiten Geheimdienstskandale könnten kaum frustrierender sein.
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  5. Es sind in Europa wie auch in den Vereinigten Staaten keine ernsthaften, handfesten Veränderungen eingeleitet worden - nicht einmal konstruktive Ideen oder auch nur der Wille dazu sind erkennbar. Außer einigen wenigen Lippenbekenntnissen gibt es von den verantwortlichen Politikern hierzulande: nichts - auch keine Beiträge, die untermauern, glaubwürdig widerlegen oder auch nur informationell anreichern würden, was international in den Zeitungen an veröffentlichten Fakten und in den Snowden-Papieren zu lesen ist.
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  7. Wir haben es nicht nur mit dem strukturellen Fehlen politischer Kontrolle über die Dienste zu tun, sondern auch mit einem Fehlen politischen Willens, diese Kontrolle in Zukunft zu etablieren und dem Treiben wenigstens partiell Einhalt zu gebieten. Nur damit es im Gedächtnis bleibt: Während des Lesens dieses kurzen Textes werden - wie in jeder Minute jedes neuen Tages - unzählige Datensätze weiterhin gesammelt, gefiltert, abgespeichert.
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  9. Die Politik verleugnet die Realität und sammelt weiter
  10. Dass sich diese Woche weltweit Schriftsteller und Kreative zusammengefunden haben, um ihrer Ohnmacht und ihrem Wunsch nach Konsequenzen aus der globalen Überwachung Ausdruck zu verleihen, verursacht im politischen Raum kaum ein Achselzucken. Sigmar Gabriel verkündete zwar über seinen freiwilligen NSA-Zweitaccount bei Facebook, dass er den Aufruf unterstütze, musste sich aber umgehend den berechtigten Vorwurf gefallen lassen, dass er seine Ablehnung gegen eine massenhafte Kommunikationsaufzeichnung politisch ganz konkret umsetzen könnte, indem er auf die anlasslose Vorratsdatenspeicherung verzichten würde.
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  12. Tatsächlich hatten sich die Verhandlungspartner der übergroßen Koalition darauf geeinigt, die Datensammlung bei den kommerziellen Telekommunikationsunternehmen per Gesetz erzwingen zu wollen. Wie wir aus den Snowden-Dokumenten nun wissen, sind solche Datensammlungen ein primäres Ausspähziel für NSA & Co. Die Vorratsdatenspeicherung noch immer zu fordern ist also - abgesehen von den innenpolitischen Folgen - ein von grober Ignoranz geprägter Akt politischer Realitätsverleugnung. Denn daran, dass man die zukünftigen Datenberge vor den professionellen Computereinbrechern der Dienste schützen kann, glaubt kein ernstzunehmender IT-Sicherheitsexperte mehr.
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  14. Dafür und dagegen
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  16. Sigmar Gabriel verwendet dabei eine Taktik, die Günter Hack in Anlehnung an die Quantenphysik sehr treffend als „Superposition Politics“ beschrieben hat: Wie ein Quantenteilchen hat er eigentlich keinen definierten politischen Zustand, er kann gleichzeitig gegen die NSA-Beschattung und für die Vorratsdatenspeicherung sein. Erst im Moment einer Beobachtung wird ein politischer Zustand erkennbar.
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  18. Dass diese erstaunliche Ignoranz nur der SPD zum Vorwurf gemacht wird, nicht aber den Unionschristen, scheint ein politisches Naturgesetz. Und dass die Vorratsdatenspeicherung ganz ohne Richtervorbehalt eben auch ein Datenreservoir für die hiesigen Geheimdienste und deren Partner im internationalen Kooperationsdatenhandel darstellt, wird politisch nicht einmal diskutiert.
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  20. Die Macht der Daten
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  22. Dass nun auch noch bekannt wurde und wie selbstverständlich seitens der zukünftigen Koalitionäre unkommentiert blieb, dass die NSA die Bewegungsmuster unserer Mobiltelefone abgreift, ist eine beängstigende neue Dimension des kuschenden Duckmäusertums vor den Diensten. Der Versuch, das Leben in einem digitalen Überwachungsstaat zynisch entweder als Hirngespinst oder als neue Normalität zu verkaufen, offenbart eine peinliche Bankrotterklärung der politischen Kaste gegenüber denen, die dem Staat eigentlich zu dienen haben: den Geheimen mit ihren Datenbergen.
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  24. Diese Ignoranz hat weniger damit zu tun, etwas nicht zu wissen, sondern ist das Ergebnis eines politischen und kulturellen Prozesses des Verleugnens. Dass wir es hier mit ganz entscheidenden Zukunftsfragen um ökonomische Dominanz und um wertvolle Wissensvorsprünge zu tun haben, fehlt als Diskussionsebene in der Politik vollständig. Die Dimension der Fragen, welche Macht in der Herrschaft über Daten steckt, wird nicht im Ansatz erfasst, geschweige denn in politische Antworten umgesetzt. Man möchte wohl möglichst schnell zum überschaubaren vordigitalen Alltag zurückkehren: in die gute alte Zeit vor Snowden.
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  26. Verleugnung des Rechtsbruchs
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  28. Da passt die Meldung geradezu perfekt, dass der Generalbundesanwalt Harald Range klarstellt, er sehe keinerlei Belege für strafbare Handlungen ausländischer Geheimdienste auf deutschem Boden. Man fragt sich, ob er annimmt, die Bundeskanzlerin habe den amerikanischen Präsidenten aus Langeweile angerufen und die Abhörinstallationen auf den Berliner Botschaften seien vielleicht nur dekorative Architekturelemente.
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  30. Angesichts dieser Strategie der Verleugnung tatsächlicher Rechtsbrüche und der politischen Nichtreaktion muss es niemanden wundern, wenn auch die Öffentlichkeit mehr und mehr mit Schulterzucken und Hilflosigkeit reagiert. Dem bemerkenswerten internationalen Schriftstelleraufruf schlägt aus dem deutschsprachigen Netz teilweise eine Häme entgegen, die zeigt, als wie erstaunlich stabil sich Unwissen erweisen kann.
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  32. Wie aber sollte verantwortliches Handeln der Politik aussehen? Was wären die Vorsätze für einen Politiker für das Jahr 2014, der es ernst meint und sich nicht mit dem Status quo abfindet? Der erste Schritt bestünde darin, anzuerkennen, dass die Politik derzeit keine Kontrolle über die Dienste hat und diese dringend herstellen muss.
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  34. Dabei geht es eigentlich um etwas, das Politiker sehr gut verstehen: Macht. Denn es ist eine glasklare Machtfrage, wer in den westlichen Demokratien die Spielregeln bestimmt. Derzeit erinnert die Situation an die Hausmeier im Merowingerreich: Weil sich die eigentlichen Herrscher als inkompetent und desinteressiert erwiesen, übernahmen die Hausmeier und Verwalter nach und nach die Herrschaft, bis sie sich schlussendlich der nur noch zeremoniellen Könige entledigten.