From Ivory Parrot, 11 Years ago, written in Plain Text.
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  1. Die liebe sei ein konstrukt des modernen menschen, heisst es. In früheren zeiten gab es nur das begehren, heisst es. Und die liebe wurde konstruiert, von einer westlich-christlichen moral, die in ihr die ableitung der liebe zu gott sah. Gott konnte man nicht körperlich begehren, also musste eine gefühlsregung erfunden werden, die man als parallele zur zwischenmenschlichen begehrlichkeit auf gott anwenden konnte. Aus dieser ur-liebe, heisst es, wurde dann die nächstenliebe "geboren", die sich, in ihrer höchsten ausformung, zur "liebe" zwischen zwei menschen entwickelte. Die liebe also als konstrukt des religiösen menschen.
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  3. Nun glaube ich nicht, dass das, was ich fühle, wenn ich an den geliebten jungen denke, ein unnatürliches konstrukt ist, reine ausgeburt eines ingeniösen denkens. Rufe ich mir kurz in erinnerung, was ich mir von Platons theorien noch im gedächtnis halten konnte, so scheint mir, dass bei ihm auch eine art von liebe als höchstes gut am ende der stufen zur wahrheit steht. Beginnend bei der liebe zum knaben, als manifestation der grösstmöglichen körperlichen schönheit, steigt die wahrheitssuchende seele empor zur bewunderung der schönheit des geistes. Was ist das anderes, so wir es denn auf den individuellen menschen als objekt anwenden, als eine art von liebe? Vielleicht als die liebe, wie wir sie heute verstehen? Dagegen spricht, dass Platon (immer voraussgesetzt, ich erinnere mich recht) die körperliche liebe zum knaben auf dem weg zur vollendeten liebe zum geistig schönen irgendwann einmal zurücklässt, die höchste stufe also rein geistig ist. Etwas, das wir uns heute innerhalb einer sog. liebesbeziehung nicht gerade als ideal vorstellen. Aber ich interpretiere Platon hier auch etwas eigensinnig; er spricht ja nicht von der liebe zum menschen, sondern von derjenigen zum "wahren, schönen".
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  5. Dennoch denke ich, dass diese liebe zum "wahren" auch bei uns heute in der liebe zu einem jungen nachschwingt. Wenn wir einen jungen lieben, so ist das einerseits voller begehren, körperlichem begehren. Andrerseits begehren wir auch seinen geist, seine seele, sein immaterielles sein. Und dieses begehren, das auf immaterielles als objekt gerichtet ist, scheint mir erst dieses gefühl zu vervollständigen, das wir liebe nennen. Die körperliche extase berechtigt uns noch nicht, von liebe zu sprechen, erst die geistige extase, die sich im zusammensein mit einem jungen einstellt, lässt uns wirklich - innerlich - erzittern. Erst sie lässt in uns diese sehnsucht erwachen, die nicht allein auf einen körper bezogen ist (dann ist sie nämlich nicht an einen bestimmten jungen gebunden; sehr viele jungen haben sehr schöne körper, an denen sich die sexuelle sehnsucht jederzeit entzünden kann); nein, ich rede von einer sehnsucht, die uns zugleich bitter und süss ist, die uns befällt, wann immer sie will, der wir uns nicht erwehren können, und die auf einen ganz bestimmten jungen bezogen ist; sie befällt uns auch, wenn wir vielleicht gerade von vielen anderen jungen umgeben sind. Diese sehnsucht ist ein ausdruck der liebe, und diese liebe, die sich darin manifestiert, kann niemals auf einem blossen geistigen konstrukt aufgebaut sein.
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  7. Lesen wir frühe liebesdichtung, aus dem mittelalter etwa, so kommt diese art von liebe auch zum ausdruck. Wir können darin nicht nur das begehren erkennen, welches sich als deckmäntelchen die höfische liebe umwirft, sondern wir sollten darin auch die ehrlich empfundene allumfassende liebe entdecken. Und was in diesen gedichten an frauen so wortreich beschrieben wird, werden auch unsere vorfahren in sexualibus, also pädophile der frühzeit, empfunden haben.
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  9. Versenke ich mich in das gesicht meines geliebten jungen, das als foto vor mir auf dem schreibtisch steht, so sehe ich hinter diesem gesicht den jungen wie er war und ist: den jungen als ganzes. Ich rieche seinen zimtduft, ich höre sein jungenlachen, ich fühle seinen sanften atem auf meiner haut, ich erinnere mich aber auch seiner menschlichkeit, seiner loyalität, seiner intelligenz, der ganzen liebenswürdigkeit seiner seele und seines geistes. Das ist es, was ich immer an ihm lieben werde, wenn auch nur in der erinnerung. Aber diese sehr individuellen anteile an der liebe zu einem jungen vergingen auch bei früheren jungen nicht. Auch wenn das begehren schwand, als die jungen älter wurden, so liebe ich dennoch immer weiter diese immateriellen eigenheiten der jungen, jugendlichen, mittlerweile männer, so sie sie sich bewahrt haben. Nur allzuoft werden diese, dem jungen noch zutiefst eigenen charakterzüge in laufe des "erwachsenwerdens" von eigenschaften zugedeckt und erdrückt, die heutzutage ein gesellschaftliches weiterkommen ermöglichen. Und das sind selten eigenschaften, die ich für besonders liebenswert halte.
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  11. Aber ich schweife ab. Um nochmals auf die grundfrage zurückzukommen: Die beschrieben gefühle, die ängste, glücks-schauer, sehnsüchte und das tiefe bei-sich-sein, die sie auslösen, kann ich mir nicht als konstrukt einer abendländisch-christlichen moral denken. Vielmehr sind sie zeichen eines dem menschen seit urzeiten innewohnenden strebens nach einheit mit sich und der welt, die sich in dem einzelnen menschen kristallisiert. Es geht um das streben nach extase, nach ausser-sich-stehen und gleichzeitg ganz bei-sich-sein. Nach einem sich selbst fühlen, sich spiegeln im anderen, nach einem erleben des "Du", das auch ein erleben des "Ich" ist. Liebe heisst, in einer welt, in der von anfang an immer alles zum scheitern verurteilt ist, eine nische zu finden, in der diese fatalität des scheiterns verlacht werden kann. Das sind wünsche, die so alt sind wie die menschheit, und wenn wir das mit liebe bezeichnen, so mag diese bezeichnung unvollständig sein, nicht ausreichen. Aber wie könnten wir dieses streben und die kurzen momenten des vollkommenen glücks (das natürlich nie vollkommen ist, weil es niemals anhält, weil seine ewigkeit, die wir erleben, immer nur eine scheinbare ist, der extase gleich), wie könnten wir das jemals mit worten beschreiben? ---
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  13. ---noch eine geschichte des unendlichen scheiterns: die liebeslyrik, die genau das immer wieder versucht, immer wieder strandet und dennoch nie aufgibt; darin ihrem objekt, der liebe, gleich.
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  15. http://jay-h.fpc.li/liebe_med.html